Sobradelo – A Rua

Nach dreieinhalb Wochen auf dem Camino Francés muss ich manches neu lernen: Es gibt auf dem Winterweg fixe Etappen und nur an den jeweiligen Enden finden sich Übernachtungsmöglichkeiten. Ich kann also nicht kurzfristig entscheiden, wie weit ich gehen werde, weil es nicht alle paar km eine Albergue gibt. Bei privaten Quartieren empfiehlt es sich auch, sich anzumelden, weil sonst nicht mit mir gerechnet wird.
Außerdem muss ich vorsorgen und ein bisschen Proviant mitnehmen. Die Nüsse, Feigen, Fruchtriegel, die ich von lieben Menschen für die Reise mitbekommen habe, sind schon lange aufgegessen, nicht auf den Weg, sondern in den Herbergen aus Langeweile beim Warten auf das Abendessen. Und ich sollte auch immer eine Bar nutzen, wenn es auf dem Weg eine gibt, denn es kann die einzige für die nächsten 15 km sein.
Viel Umstellung, manches komplizierter, und doch entschädigen dieser wunderschöne Weg und die Stille für alle diese Mühseligkeiten.

In den letzten Tagen hatte ich mich etwas getrieben gefühlt. Es waren so viele Menschen unterwegs, dass ich kaum einmal gehen konnte, ohne vor oder hinter mir Gespräche mitzuhören. Und jeden Stopp, z.B. zum Fotografieren überlegte ich mir gut. Dann würden mich wieder diejenigen überholen, an denen ich gerade auf den schmalen Wegen endlich vorbeigekommen war. Ich war mittendrin und bin mitgelaufen. Welch eine Freiheit erlebe ich jetzt! Ich genieße, schau, bleibe stehen, .. alles ohne Stress.

Gestern Abend war ich wieder die einzige im Haus, allerdings in einer normalen Herberge. Ich belegte ein Bett, konnte aber den ganzen Raum und auch das Badezimmer für mich alleine nutzen. Das entspannt vor allem den Morgen, wo ich meinem eigenen Rhythmus folgen kann, nicht um 6 geweckt werde und im Dunkeln weggehe. Jetzt starte ich um ca halb 8, da ist hell genug, dass ich mich gut zurechtfinde.

Auf dem Weg hab ich gestern exakt einen Pilger getroffen, heute sah ich ihn sogar dreimal. Ich frag mich, wo er jeweils übernachtet?

Von Astorga weg führt dieser Camino entlang des Sil, in Sobradelo ist dieser Fluss von riesigen Felsen begrenzt, auf einer alten Brücke kann man ihn überqueren.
Und heute war der Fluss aufgestaut und ich konnte eine entspannte Mittagspause genießen.


Rund um das Dorf A Rua, wo ich heute in der öffentlichen Herberge bin, haben die Brände die Wälder auf den Hügeln zerstört. Ich stellte mir vor, mit welcher Angst die Menschen in ihrem Häusern saßen und hinauf schauten. Wenn sie nicht überhaupt evakuiert worden waren. Wie dankbar bin ich, dass ich dann, wenn dieses Abenteuer zu Ende ist, zurückkehren kann in ein sicheres und schönes Zuhause!

Borrenes – Sobradelo

Ich war gestern nicht nur die einzige Pilgerin auf dem Weg, sondern abends auch die einzige im ganzen Haus! Ich hab mich aber sehr wohl gefühlt:

Die Chefin erzählte mir, dass morgen zwei Portugiesen kommen werden und vor einigen Tagen zwei Österreicherinnen da waren. Der Weg ist also nicht überlaufen, sondern ein Geheimtipp für alle, die den Massen entfliehen und Natur in besonderer Weise erleben wollen.
Heut morgen war dann auch klar, warum so wenige hier pilgern. Es hatte ja vor zwei Monaten die Waldbrände gegeben und der Weg war einige Zeit gesperrt gewesen. Besonders Las Medulas war betroffen. Der Ort ist Weltkulturerbe wegen seiner außergewöhnlichen Landschaft, die durch den Goldbergbau der Römer entstanden ist. Sie haben damals Wasserkanäle durch die Berge gegraben und so das Gold ausgespült.

Und stolz sind die Menschen in Las Medulas auch auf ihre uralten Kastanienbäume.
Es war sehr bedrückend, hier zu gehen und zu sehen, dass diese Bäume total verbrannt sind und nur mehr ein Gerippe übrig blieb. Aber auch ein Hoffnungszeichen, wenn sich unten am Stamm neue Triebe zeigen.

Als ich dann ins nächste Dorf kann, war alles wieder schön und eine prächtige Landschaft zeigte sich.

Durch meinen Wechsel auf den Winterweg hat sich mein Kilometerkonto erhöht. Von Ponferrada waren es auf dem Camino Francés noch 203 km bis Santiago gewesen, laut Internet wären es auf diesem Weg 239, die galicischen Angaben zeigen noch einmal 20 km mehr. Egal, ich werde bis zum Ziel gehen, hinauf, hinunter, immer den gelben Pfeilen folgend.

Ponferrada – Borrenes

Die kirchliche Herberge in Ponferrada, wo ich gestern die Nacht verbracht habe, feierte am Abend mit einer schön gestalteten Messe in der eigenen Kapelle und mit einer kleinen Feier den 25. Geburtstag. Sie ist nach Nikolaus von der Flüe benannt, dessen Gedenktag gestern war. Seit 25 Jahren betreuen hier Freiwillige aus aller Welt die Pilgernden, und das können immerhin bist zu 170 sein! Gestern waren es definitiv nicht so viele, aber auch wenn nur 20 Menschen in verschiedenen Gruppen oder alleine zu kochen beginnen, kann das in der Küche, die zugleich der Eingangsbereich ist, ziemlich laut sein und laut riechen.

In den letzten Tagen haben immer mehr Pilgernde davon gesprochen, wann sie in Santiago ankommen werden. Und möglichst nicht am 8. oder 9. Oktober, denn da ist angeblich der ganze Platz vor der Kathedrale gesperrt wegen der Filmdreharbeiten. Wahrscheinlich auch wieder so ein Camino-Gerücht.
Ich hab mir mein Ankommen noch nicht überlegt, sondern heut quasi neu gestartet: nach einigem Überlegen und Gesprächen habe ich mich entschlossen, in Ponferrada auf den Camino de Invierno, den Winterweg, zu wechseln. Früher war das die Alternativroute für die Wintermonate, wo Schnee auf dem Cebreiro-Pass lag. Heute ist dieser Weg wenig bekannt, und ich erhoffe mir hier weniger Menschen und mehr Stille. Gestern Abend hatte ich mich schon nach der Abzweigung erkundigt, war aber noch immer im Unklaren. Tagsüber hatte ich Olga aus der Ukraine wiedergetroffen, die ich seit zwei Wochen nicht gesehen hatte, und mit ihr Matt aus Holland, den ich auch etliche Tage aus den Augen verloren hatte. Diese Erlebnisse würde ich auf dem neuen Weg definitiv nicht mehr haben. Es ist auch auf dem Camino nicht ganz einfach, aus dem jetzt schon Gewohnten und Vertrauten auszusteigen, zu verabschieden mit all den Folgen und sich auf ganz Neues einzulassen.

Heute morgen bin ich dann den neuen Weg gestartet. Es war wunderschön zu gehen, auf Waldwegen, durch kleine Dörfer mit Steinhäusern, über Hügel und ganz hinauf bis zum Castillo Cornatel, wieder einer Templerfestung aus dem 11. Jhdt. Ich hab den ganzen Tag nur einzelne Dorfbewohner gesehen, aber überhaupt keine Pilgernden! Und auch keine Bar zum Einkehren! Deswegen stoppte ich nach 20 km in Borrenes. Weil ich aber auch hier nichts zu essen fand, nahm ich mir ein Zimmer in dem einzigen ‚Hotel‘. Hier werde ich dann auch gleich was zu essen bekommen. Ein Zimmer ganz für mich alleine! Welch ein Luxus!

Riego de Ambros – Ponferrada

Mein Tagesziel mit nur 12 km war heute Ponferrada mit seiner Templerburg aus dem 12. Jhdt. Die Templer hatte ich ja schon in Rabanal kurz erwähnt. Sie waren Ritter und Mönche zugleich und schützten die Heiligen Stätten und die Wege dorthin, unter anderem nach Jerusalem und nach Santiago. Für die reichen Pilgernden initiierten sie sogar ein Banksystem: diese konnten Geld abgeben und an verschiedenen Orten der Pilgerschaft zurück bekommen. Wegen ihrer Macht und auch ihrer geheimnisvollen Rituale waren die Templer dem Papst und auch dem König suspekt und sie veranlassten das Verbot des Ordens und die Verhaftung Wallet Mitglieder – an einem Freitag, 13. Oktober 1307 – ein Grund, dass Freitag, 13. bis heute ein Unglückstag ist?

15 Personen waren wir gestern in der Herberge, eine relativ hohe Zahl. Der Verantwortliche sprach von normalerweise 6-7 Pilgernden. Am Tisch für das Abendessen war nur Platz für 11, daher kochte er auch nur für diese, die anderen schickte er ins Restaurant. Darunter war Sven, ein junger deutscher Pilger, den ich von den Bar mitgenommen hatte. Er wirkte so verloren und erzählte mir, dass letzten Sonntag sein Vater verstorben sei und seine Mutter mit Herzinfarkt im Spital liege und Mitte der Woche operiert werde. Er wisse jetzt nicht, wie und was er weiter machen solle. Seine Mutter sagte, er solle den Weg weitergehen, bis klar ist, wann das Begräbnis sei.
Und auch Kathi, eine deutscher Pilgerin durfte nicht zu uns an den Tisch. Sie ist das 10. Mal auf einem Camino in Spanien unterwegs, fünfmal davon mit ihrem Mann, bis er vor fünf Jahren verstorben ist. Sie ist 82 Jahre alt und geht sehr langsam, aber sie genießt die Zeit hier, weil sie sich da ihrem Mann besonders nahe fühle. Diese Lebensgeschichten erfuhr ich heute früh bei einem Tee, weil ich erst bei Tageslicht starten wollte. Der steinige Weg bergab schien mir in der Dunkelheit doch etwas zu gefährlich.
Ich passierte Molinaseca, das sich selbst als einen der schönsten Orte Spaniens bezeichnet mit seiner römischen Brücke.

Nach dem Regen am gestrigen Nachmittag und dem relativ frühen Abendessen fand ich Zeit für einen Spaziergang und Fotos der rein gewaschenen Landschaft und des hübschen kleinen Ortes, er ist wirklich Stein-reich!

Rabanal – Riego del Ambrós

Mein spiritueller Tank wurde in den letzten zwei Abenden gut aufgefüllt bei Gebeten, Gesprächen, Liedern, einer Messe und zweifachem Pilgersegen. So startete ich heute etwas später und nahm den Aufstieg zum Cruz de Ferro in Angriff. In der Hand hielt ich einen Stein, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Vor ca sechs Jahren habe ich ihn beschriftet: Fließen im Lebensfluss. Das ist der erste Teil eines Liedes, der weitere Text: verbunden sein, bis in das Herz hinein.
Dieser Gedanke des Unterwegsseins im Fluss des Lebens ist mir auf dem Camino sehr wichtig geworden. Ich gehe hinter Menschen, ich gehe vor Menschen, mit allen bin ich durch diesen Weg verbunden. Im Leben gibt es auch viele, die vor mir gegangen sind, auf deren Erfahrung ich aufbauen kann. Und es wird viele geben, die hinter mir kommen. Ich bin ein kleines Teilchen mittendrin und doch mit allen verbunden. Auch mit allen, die jetzt gerade gehen, egal von woher sie kommen, wie alt sie sind, welche Position sie in ihrem Alltag haben. Wir sind verbunden und das ist hier auf dem Camino besonders gut spür- und lebbar.

Auf dem Weg zum Kreuz passierte ich den kleinen Ort Foncebadon. Hier fand im 10. Jhdt sogar ein Kirchenkonzil statt, wenig später wurde hier die erste Pilgerherberge gegründet. Im 20. Jhdt verfiel der Ort total, aber seit 2000 wird er wieder aufgebaut und es gibt jetzt etliche Pilgerherbergen. Es ist beliebt, hier zu übernachten, um den Sonnenaufgang beim Kreuz zu erleben.

Es ist eine uralte Tradition, dass alle, die zum Cruz de Ferro kommen, dort einen Stein niederlegen. Mich hat dabei etwas abgelenkt, dass wieder das Filmteam da und es viel zu sehen gab. Aber davon unabhängig ist es spürbar ein besonderer, aber auch trauriger Ort. Viele Menschen gedenken hier ihrer verstorbenen Angehörigen, indem sie Bilder ablegen. Viele legen das Schwere ihres Lebens hier nieder.

Weiter ging es bei prächtigen Aussichten über die Berge von Leon und dann hinunter nach El Acebo, wo die Balkone der Häuser so nahe aneinander sind, dass man sich gegenseitig die Wäsche abnehmen kann.
Etappenende war heute für mich schon nach ca 20 km in einem winzigen Ort mit einer Municipal, das heißt einer Herberge, die von der Gemeinde betreut wird. Sie ist so einfach und doch sehr nett. Sowohl Bett als auch Abendessen kosten jeweils 10 €. Es sind nur ganz wenige Pilgernde hier. Ich bin mir nicht sicher, wie lange es diese einfache Form der Unterbringung noch geben wird. Der Trend geht zu den privaten Herbergen mit viel mehr Komfort. Das schließt aber dann automatisch jene vom Pilgern aus, die sich das nicht leisten können.

Astorga – Rabanal

Gestern Nachmittag besuchte ich in Astorga den Bischofspalast von Antonio Gaudi. Das Gebäude war schon während des Baues umstritten, stand dann jahrelang als Baustelle, bis es von einem anderen Architekten fertig gestellt wurde. Ein Bischof hat nie darin gewohnt. Im Bürgerkrieg war es sogar als Hauptquartier des Militärs genutzt. Jetzt ist es ein Museum. Hier einige Eindrücke dieses wunderschönen Gebäudes:

Ich machte heute einen kleinen Umweg nach Castrillo de los Polvazares. Das ist sozusagen der vollkommen restaurierte ‚Vorzeigeort‘ der Maragatería zwischen Astorga und den Bergen. Die Böden sind karg und die Menschen konnten nie davon leben, weshalb sie sich vor allem als Fuhrleute verdingten. Sie sind eine eigene Volksgruppe und haben sich eine eigene Folklore bewahrt. Typisch sind die unebenen Straßen und die Häuser aus rotem Stein mit grünen Fenstern und Türen mit weißer Umrundung. Die Kirchen haben Glockentürme, die nur aus einer Mauer bestehen. Und oben nisten die Störche.

Mein heutiges Tagesziel war Rabanal, ein kleiner Ort, ca 10 km vor dem berühmten Cruz de Ferro. Die Kirche hier steht seit 900 Jahren, war eine Außenstelle des Templerordens, der die Pilgernden auf dem Weg beschützte. Faszinierend, dass die Menschen auf dem Weg in dieser Kirche seit so langer Zeit Ruhe und Gebet suchen und finden. Auch Franz von Assisi soll hier gewesen sein, denn auch von ihm ist belegt, dass er nach Santiago gepilgert ist und hier über die Berge gab es keine Alternativroute. Die Kirche gehört zum kleinen Benediktinerkloster, wo man evtl auch für zwei oder mehr Nächte bleiben kann. Vor zwei Jahren hab ich das gemacht, heute checkte ich in der Herberge daneben ein. Sie hat einen riesigen Garten und wird von der britischen Jakobusgemeinschaft betreut und verwaltet, mit drei super freundlichen Hospitaleros aus Amerika und UK. Um 17 Uhr gibt es zur und Biskuits – very british!

Villar de Mazarife – Astorga

Das war gestern Action pur, als die 40 Jugendlichen um ca 18:30 mit ihren Rollkoffern und Taschen (keines davon Handgepäcksgröße) bei uns in der Herberge einzogen. Diese hatten sie natürlich nicht mitgetragen, sondern ein Bus begleitet die Gruppe mit ihren wichtigen Sachen. Sie schafften es dann innerhalb kürzester Zeit, alles anzuräumen und als ich später auf die Toilette gehen wollte, lagen ein Fön im Waschbecken und sonstige für junge Mädels wichtige Dinge überall herum.
Ich find es wirklich bewundernswert, dass Lehrkräfte sich das antun. Für die Jugendlichen ist es sicher eine tolle Erfahrung. Und heute sind sie denselben Weg wie ich gepilgert, nämlich bis Astorga, und das sind immerhin 32 km!
Ich wurde schon gefragt, wieviel mich dieses Unterwegssein eigentlich kostet? In einer öffentlichen Herberge kostet die Nacht zwischen 7 und 15 €, dazu kommt das oft gemeinsame Abendessen. Um ungefähr 15 € gibt es ein dreigängiges Menü. Zum Frühstück bestelle ich mir immer grünen Tee und Tostados mit Tomaten und Olivenöl, die kosten zwischen 3,50 € und 6 €, wobei der Preis nicht abhängig von der Größe der Brote ist, sondern eher von der Nachfrage bestimmt wird. Tagsüber kaufe ich mir dann oft noch eine Kleinigkeit, Orangensaft, Tortilla, ein Eis… Also ca 40 € pro Tag muss man rechnen. Es würde natürlich viel günstiger gehen: in den Herbergen gibt es überall eine gut ausgestattete Küche, wo man Mitgebrachtes zubereiten kann. Aber für mich alleine zu kochen und die Reste vielleicht wegwerfen oder mitnehmen müssen, das ist mir doch zu mühsam.
Und selten, aber heute, gibt es auf dem Weg auch Donativos, bunte, lustige Stände, wo man gegen eine Spende Verschiedenstes zu essen und zu trinken bekommt und auch nette Leute trifft.

Genauso wichtig wie der körperliche Hunger ist aber für mich der Hunger nach Geistigem, Spirituellem. Heute auf dem Weg haben mir verschiedene Engel geflüstert, dass es in Astorga eine neue Herberge der Franziskaner gibt, mit Zweibettzimmer, eigener Dusche und vor allem mit Möglichkeit zum Austausch und zur Messe mit Einzelsegen. Alle Engel hatten reserviert, ich probierte es ohne und bekam tatsächlich das allerletzte Bett. So konnte ich auch am spirituellen Programm der drei jungen Mönche teilnehmen, der Grund dafür, dass dieser Blog heute relativ spät kommt.

Noch einige Fotos vom heutigen Tag: die mittelalterliche Brücke von Hospital de Orbigo mit ihren 19 Bögen und Kathedrale und Bischofspalast von Astorga

Leon – Villar de Mazarife

3 Monate Hitze und 9 Monate Winter, so wird es von dieser Gegend gesagt. Und jetzt hat offensichtlich der Winter begonnen. Vorsichtshalber habe ich mir gestern noch Handschuhe gekauft, obwohl ich so manchen empfohlen hatte, einfach Socken an den Händen anzuziehen. Aber mit den Stöcken ist das dann doch nicht so praktisch.
Entgegen der gestrigen Wettervorhersage, wo tatsächlich nur 1° für Leon angekündigt gewesen war, hatte es heut morgen eh 6°, wie die Anzeige bei der Apotheke verriet. Und es wurde am Vormittag auch wärmer und jetzt kann ich in der Sonne sitzen.
Ich habe mir vorgenommen, mein Tempo etwas zu reduzieren. Irgendwo auf dem Weg habe ich die 300 km bis Santiago-Marke überschritten. Deswegen habe ich heute denselben Ort angestrebt, ca 20 km nach Leon, wo ich auch 2017 war. Schon im vorherigen Ort kam die Meldung: ’no beds free in Villar de Mazarife!‘ Sowas hatte ich ja schon öfter gehört und deswegen ging ich einfach los, gemeinsam mit Debbie und Barb aus den USA, die ich in letzter Zeit immer wieder treffe. In der ersten Herberge war alles voll, in jener von Jesus (das ist hier ein beliebter Männername) hatten sie genau drei Betten frei! Die standen noch dazu in einem gemütlichen kleinen Zimmer. Ein Pilger wird noch kommen, wir erwarten ihn mit Neugier. Das Besondere in diesem Haus sind die Graffitis an den Wänden, die Pilgernde hinterlassen haben.

Die anderen 40 Plätze der Herberge sind für Schulkinder reserviert, die vier Tage lang auf dem Camino pilgern. Insgesamt sind es 120, sie sind auf mehrere Herbergen aufgeteilt, was die Situation für die normalen Pilgernden etwas schwierig macht. Den ganzen Nachmittag kommen hier Menschen an, teilweise recht erschöpft, und sie werden weitergeschickt, mindestens 10 km, wenn es dort voll ist, würden sie in 14 km sicher einen Platz finden. Sie tun mir natürlich leid! Für mich und die beiden Amerikanerinnen hat es sich jedenfalls ausgezahlt, um 7 Uhr schon auf dem Weg zu sein.

Mansilla de las Mulas – Leon

Auf dem Weg traf ich Santiago aus Australien, den ich in den letzten Tagen schon öfter als Bettnachbar gehabt hatte, unter anderem auch im Altarraum der Kirche San Nicolas. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, dass er den Jakobsweg gehe, weil er sich überlegen möchte, wie es in seinem Leben weitergehen soll. Er ist 53, hat als Wissenschaftler Karriere gemacht, verdient sehr viel Geld, ist allerdings nur am Wochenende zu Hause. Seine Kinder sind mit der Ausbildung fertig. Er habe immer gern gearbeitet, um die Welt besser zu machen. Jetzt aber frage er sich, wie viel Zeit und Energie er noch in eine Arbeit stecken möchte, in der man jederzeit ausgetauscht werden kann. ‚It’s just the beginning of my journey‘, meinte er und mir wurde bewusst, dass meine ‚journey‘ vor 8 Jahren auch hier auf dem Camino begonnen hat. Seither habe ich immer mehr entdeckt, wer und was ich sein möchte, habe mich verändert, Dinge neu ausprobiert, mich von vielem verabschiedet und doch mich gefunden. Ich war mutig und entschlossen und bin unendlich dankbar für diese letzten Jahre, in denen sich mein Leben so bunt entwickelt hat. Und in dieser Dankbarkeit gehe ich noch einmal diesen 800 km langen Weg.

Heute also bis Leon. Eine Stadt zu erpilgern ist immer eine Herausforderung. Es geht zuerst kilometerlang durch das Industriegebiet, dann muss ich mich im Straßengewirr zurechtfinden und plötzlich sind auch viele Menschen unterwegs, die mir entgegen kommen – und das ohne Pilgerkluft!
Leon ist eine sympathische Stadt mit einem historischen Zentrum, beeindruckenden alten Gebäuden und einer der schönsten gotischen Kathedralen. Das muss man sich vorstellen: im 12. Jhdt hatte diese Stadt ca 5000 Einwohner und erbaute eine Kathedrale, die ihresgleichen sucht! Das wirklich Besondere sind die 200 Fenster mit einer Fläche von insgesamt 1.800 m2, die noch im Originalzustand erhalten sind und ein wunderbares Licht ins Innere zaubern. Bei der Besichtigung musste ich schmunzeln: so viele Bekannte habe ich in einer fremden Stadt in der Kirche noch nie getroffen! Es waren ja fast alle hier, die ich in den letzten Tagen auf dem Weg unterwegs waren.

Auch Antonio Gaudi hat der Stadt ein Denkmal gebaut: die Casa de Botines.
Das Pantheon der Könige, das wegen seiner Originalfresken auch ‚Sixtinische Kapelle der romanischen Kunst‘ genannt wird, besuchte ich diesmal nicht. Ich habe es ja schon zweimal gesehen. Stattdessen suchte ich beim Stadtbummel immer wieder Sonnenplätze, im Schatten ist es ziemlich kalt. Und morgen sollen die Temperaturen noch einmal sinken!

Bercianos – Mansilla de las Mulas

In der gestrigen Herberge traf ich vier Pilgernde wieder, denen ich in den letzten Tagen von diesem Ort erzählt hatte. Sie waren alle meiner Empfehlung gefolgt. Eine davon ist Giorgia,eine junge Italienerin. Als wir am Nachmittag zusammen im Garten saßen, hat sie mir etwas erzählt, was sie und jetzt auch mich sehr beschäftigt. Am Tag vorher hatte sie in einer Herberge eingecheckt, als Dan, der junge Israeli, hereinkam und ein Bett für sich und seine drei KameradInnen wollte. Als der Herbergsverantwortliche den israelischen Pass sah, schmiss er ihn zurück und Dan praktisch hinaus. Israelis seien in seiner Herberge nicht willkommen! Dan ist gegangen. Wie er sich da wohl gefühlt hat?
Auch Giorgia hatte die Israelis nie gefragt, was sie vom Gaza-Krieg halten.
Egal, aber sind sie jetzt mitverantwortlich für das, was ihre Regierung macht? Sollen sie dafür bestraft und ausgeschlossen werden? Wo ist die Grenze zum Rassismus? Würd der Verantwortliche das auch mit einer anderen Volksgruppe, z.B. Russen, so machen?
Ich hab die beiden Israelis so offen erlebt. Sie sagten, sie seien hier unterwegs, weil sie anderes kennenlernen wollen. In ihrer Religion sei alles sehr streng. Sie waren auch mit in der Messe, einfach, weil sie es erleben wollten, auch wenn das eigentlich verboten ist und sie sich überhaupt nicht ausgekannt haben. Als ich Giorgia vom österreichischen Pass erzählt habe, meinte sie: da sollte er besser diesen verwenden!

Typisch für Bercianos und diese Gegend sind die Lehmbauten. Man kann in den Mauern Steine und Stroh erkennen. Das sieht für mich sehr schön aus. Wenn sich niemand mehr darum kümmert, zerfällt es wieder zu Erde. Und das passiert bei einigen der Häuser im Moment. Die Kirche wurde schon abgetragen, Teile davon in der Herberge, dem ehemaligen Pfarrhof verbaut.

Am heutigen Tag habe ich kein einziges Wegfoto gemacht. Es war einfach ‚more of the same‘. Den ganzen Tag ging es einen mit Bäumen gesäumten schnurgeraden Weg an einer ebensolchen Straße entlang und es war extrem kalt. Bei 6° sind wir angeblich in der Früh gestartet. Als ich bemerkte, wie kalt es ist, war ich schon unterwegs und wollte nicht stehenbleiben, um mir die Jacke aus dem Rucksack zu holen. Es wird ja eh gleich die Sonne aufgehen, es wird ja eh gleich wärmer werden… Darauf wartete ich den ganzen Tag. Die letzten Kilometer hatten wir noch extremen Gegenwind. Aber da zahlte es sich nun auch nicht mehr aus .. Mein Tagesziel hab ich nach 26 km glücklich, gut und mit einigen Fragen im Kopf erreicht. Morgen werden ich Leon ansteuern.

Auf dem Weg sieht man immer wieder wunderbar gestaltete Hausmauern. Hier einige davon: